Published in: Kunstbulletin 11/ 2018
Martina Lussi - Besuch in Kairo
Die Kunstszene ist globaler denn je. Wanderausstellungen, Messen und Stipendien verknüpfen den Norden mit dem Süden, den Osten mit dem Westen. Dass diese weltumspannende Ausrichtung bisweilen für glattgeschliffene und normierte Kunsterfahrungen sorgt, ist nicht abzustreiten. Doch gibt es immer noch Orte, die verlangen, dass man auf sie reagiert und mit ihnen interagiert. Kairo ist eine solche Stadt, und ein Besuch soll Auskunft darüber geben, wie die Kunstproduktion und -rezeption in der Metropole am Nil vonstattengeht.
Es ist die blaue Stunde im al-Azhar-Park und ein Aussichtspunkt gibt den Blick frei auf die grösste Stadt des arabischen Raums. Unmittelbar an die alten, den Park umschliessenden Stadtmauern angrenzend erstreckt sich das historische Kairo. Die Bausubstanz der ältesten noch erhaltenen mittelalterlichen Stadt der Welt ist vernachlässigt, zahllose Gebäude stehen leer, und doch ist das Stadtviertel voller Leben: Auf den Dächern spielen Kinder und winken herüber zu den Beobachtern, daneben sitzen Tauben auf ihren Verschlägen, zum Abflug bereit. Moscheen ragen allerorten in den Himmel, manche umschlungen von grünen Neonschläuchen, manche belassen in nacktem Stein. Die Hektik und Hitze des Augusttages weicht langsam einer bedächtigeren Stimmung: Das Hupkonzert, der stets präsente Soundtrack des täglich aufs Neue zusammenbrechenden Strassenverkehrs, ebbt ab (ohne jemals ganz zu verstummen), und die Rufe der Muezzins legen sich wie ein Gebetsteppich über die Stadt. Und im al-Azhar-Park steht die Luzerner Künstlerin Martina Lussi (*1987, Luzern) mit einem Aufnahmegerät in der Hand und versucht, diesen besonderen Moment in dieser besonderen Stadt zu dokumentieren.
Hören, was passiert
Marina Lussis künstlerischer Gegenstand ist der Sound. Nicht als Beiwerk von Installationen oder Performances, sondern als Recherchemittel wie auch autonomes Ergebnis. Dass es dazu kam, daran ist Kairo nicht unbeteiligt. Bereits 2013 verbrachte die Künstlerin sechs Monate im Rahmen einer Residency, finanziert durch die Städtekonferenz Kultur und die Stadt Zug, in der ausufernden Metropole. Nach der ersten Revolution 2011 fällt der Aufenthalt in die Hochphase der zweiten Revolution, die im Juni des Jahres in Demonstrationen und Gewalt gipfelt. Die Erfahrungen in Kairo liessen die Künstlerin desillusioniert zurück, und den Sinn von Kunst hinterfragend reiste sie in die Schweiz. Waren Performances, Videos und Installation zuvor noch Hauptbestandteil ihrer Praxis, blieb massgeblich die Erinnerung an die Geräuschkulisse: Jets, Schüsse, zwischen Freude und Wut oszillierendes Schreien und Klatschen sowie Helikopter, die Tag und Nacht über der Stadt kreisten. Die Erkenntnis, welche Wucht und Wirkung Sound entfalten kann, brachte Lussi, die in Luzern und Bern Bildende Kunst und Contemporary Arts Practice studierte, zur Entscheidung, fortan wieder vermehrt in diesem Medium zu arbeiten. Dafür stützt sie sich vor allem auf sogenannte Feldaufnahmen, also der Wirklichkeit entnommene Klangpassagen, die sie dann in einem weiteren Schritt bearbeitet, verzerrt, überlagert oder synthetisch nachbildet. In dieser Art des Arbeitens drängt sich der Vergleich mit der Malerei auf, denn auch dort sorgt die Verfremdung eines Ursprungsmaterials bisweilen für erhellende Perspektivwechsel und Erkenntnisgewinne. Und der Fundus, aus dem Lussi in Kairo schöpfen kann, ist gross. Während des zweiten Aufenthalts in der Stadt, finanziert durch ein Recherchestipendium von Pro Helvetia, die eine Auslandsdependance in Kairo unterhält, archiviert sie Gebetsrufe, Taxifahrten, Hupsymphonien und Marktschreier, die alles feilbieten, von Kleidung über Säfte hin zu Schuheinlagen und Gewürzen.
Warum gerade Kairo?
Gautier Chiarini, Leiter Aussenstellen bei Pro Helvetia, antwortet auf die Nachfrage per Mail: «Die internationale Strategie von Pro Helvetia sieht eine Vertretung in jeder wichtigen Kulturregion der Welt vor. Kairo war das erste lokal verankerte und dezentral agierende Verbindungsbüro von Pro Helvetia und wurde vor dreissig Jahren gegründet. Es erleichtert als Türöffner den Kulturschaffenden aus der Schweiz den Zugang zu diesem Kulturraum und fördert den Kulturaustausch mit dieser Region.» Dass dieser Kulturaustausch, der übrigens genauso Reisen ägyptischer Kunstschaffender in die Schweiz ermöglicht, manchmal holprig abläuft oder vor unvorhersehbare Probleme gestellt wird, darüber gibt Dalia Suleiman Auskunft. Die Leiterin des Verbindungsbüros in Kairo empfängt in der Schweizer Botschaft, dem lokalen Hauptquartier der Stiftung. Auf finanzintensive Repräsentationsräume wird bewusst verzichtet: «Kommunikation in Kairo funktioniert anders als in der Schweiz. Spontane, organische und persönliche Kommunikation wird dem systematischen Mailverkehr immer vorgezogen, und darauf müssen sich die Stipendiaten einstellen.» In der Botschaft, einer grünen Oase inmitten des hektischen Zentrums der Stadt, führt sie weiter aus: «Die Residency in Kairo wurde auf Grund der unklaren Situation während der Revolution beendet und ist erst seit zwei Jahren wieder aktiv. Eine grosse Herausforderung seitdem ist die individuelle Verknüpfung der Stipendiaten mit den lokalen Institutionen und das Entwickeln eines zuverlässigen Partnernetzwerks.» Im Fall von Lussi ist diese Verknüpfung geglückt. Sie präsentierte eine Auswahl ihres Materials als Live-Performance während einer Veranstaltung im Swiss Club. Der Abend wurde vom lokalen Veranstaltungskollektiv ‹Vent› organisiert, und brachte Musiker, DJs und Kunstschaffende aus der Schweiz und Ägypten zusammen. Andere wichtige Institutionen der Kunstproduktion und des Austauschs sind die Townhouse Gallery, in der die Schweizer Künstlerin Esther Ernst Ende Mai, ebenfalls dank eines Stipendiums von Pro Helvetia, ein Projekt realisierte, oder das Contemporary Image Collective/CIC, das seit Dezember 2014 von der Schweizerin Andrea Thal (→ KB 12/2017, S. 38/39) geleitet wird und vor allem die städtische Szene im Blick hat. Ein Indikator übrigens für die eher kleine Kulturszene dieser Riesenmetropole: Auch Dalia Suleiman hat, vor ihrem Engagement für Pro Helvetia, beim CIC gearbeitet. Dass eine Schweizerin eine unabhängige Kulturinstitution Kairos leitet und eine Ägypterin die Auslandsvertretung einer Schweizer Institution, zeigt in feiner Weise die Nähe der beiden Länder trotz aller Differenzen. Über die unterschiedlichen Arten des Arbeitens und der Auseinandersetzung mit Kunst kann man mit Andrea Thal in den neuen Räumen des CIC sprechen. Die Institution befindet sich mitten im Umzug und die grosszügigen Räume zweier zusammengelegter Wohnungen werden derzeit weiss gestrichen, Regale montiert, Werkstätten eingerichtet, Pläne geschmiedet. Wie lässt sich das alles finanzieren ohne etablierte Förderstrukturen, wie sie in der Schweiz üblich sind, frage ich die Kuratorin. «Die Finanzierung des CIC ist ein Patchwork, unsere Werkstätten bringen Einnahmen, besonders im fotografischen Bereich, und wir vermieten einige Studios. Der Rest des Geldes muss immer wieder neu situativ und projektbezogen zusammengesucht werden. Die meisten nichtstaatlichen Institutionen in Ägypten leben prekär.»
Kunst als Aktivismus
Dass diese Art des Arbeitens auch andere Dringlichkeiten und Fragestellungen für die Programmgestaltung mit sich bringt, versteht sich da fast von selbst. Und dass die zeitgenössische Kunst nicht von einem Elfenbeinturm agieren, sondern die Interessen der Menschen vor Ort berücksichtigen muss, ist für Andrea Thal oberste Prämisse: «Für mich ist es eine Befreiung, mich nicht ständig mit institutionalisierten Fragen von zeitgenössischer Kunst beschäftigen zu müssen. Die Verknüpfung von aktivistischer Arbeit, Populärgeschichte, Bildung und Recherche funktioniert hier besser. Unser letztes Langzeitprojekt lief über drei Jahre und hat sich mit Gefangenschaft und sozialem Ausschluss auseinandergesetzt. Darüber konnten und wollten viele Menschen aus persönlicher Erfahrung sprechen.» Dass die Kunst im CIC wieder näher an die Wirklichkeit heranrückt, ist das Verdienst von Thal und ihrem Team, und dass Kairo als Entität eine entscheidende Rolle in dieser Ausrichtung spielt, ist unbestreitbar. Man denkt noch einmal zurück an Lussi und daran, dass auch für die Künstlerin die Begegnung mit der Stadt Konsequenzen für ihre eigene Arbeit hatte, und fragt sich: Ist eine globalisierte Kunstwelt nicht unbedingt zu befürworten, wenn sie so unterschiedliche Länder wie die Schweiz und Ägypten in vielerlei Hinsicht näher aneinanderrücken lässt und so ein produktiver Austausch entsteht?
‹Martina Lussi. Diffusion is a Force›, Album, erscheint bei Latency Paris 2019 ↗ www.latency.fr
Martina Lussi (*1987, Luzern) lebt und arbeitet in Luzern
2016 Master of Arts in Contemporary Arts Practice, Hochschule der Künste, Bern2011 Bachelor of Arts in Bildender Kunst, Hochschule Luzern – Design & Kunst
Performances (Auswahl)2018 ‹Atonal›, Kraftwerk, Berlin; ‹Vent x zweikommasieben›, Swiss Club Cairo, Kairo2017 ‹Oto nove Swiss ›, Café OTO, London; ‹Can you play this colour again?›, Benzeholz, Meggen
Ausstellungen (Auswahl)
2017 ‹Fortsetzung folgt – 140 Jahre HSLU D&K (Teil 3: Jonas Etter, Martina Lussi, Peter Roesch, Roman Signer›, Kunstplattform Akku, Emmenbrücke; ‹Jahresausstellung Zentralschweizer Kunst-schaffen›, Kunstmuseum, Luzern2016 ‹Affaire – Festival des Arts›, Centre PasquArt, Biel
Veröffentlichungen (Auswahl)2018 ‹Installations 2016/2017› (Kassette, digital), Prehistoric Silence2018 ‹Selected Ambient› (LP, Vinyl & digital), Hallow Ground