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Die Empathie-Maschine
Die Nachrichtenplattform RYOT produziert 360 Grad Videos, deren Machart eine größere Identifikation mit den dargestellten Themen verspricht. Wird dieses Versprechen eingelöst?
Der Blick in die Gesichter vieler junger Menschen. Schilder in den Händen, «A FUTURE TO BELIEVE IN» steht auf diesen geschrieben. Die Augen wandern weiter nach links und wir stehen direkt neben Bernie Sanders auf einer Bühne in Iowa. Die Menschen skandieren euphorisch: «Bernie, Bernie, Bernie». Der Präsidentschaftskandidat der Demokraten ist bereit, seine Rede zu beginnen. Dann, Schnitt: der weite Blick auf das flache Land Iowas, Silos, vereinzelte Häuser, Schneereste und Stromleitungen, egal in welche Richtung man sich orientiert. Eine Stimme aus dem Off ergänzt die Eindrücke: «We came to Iowa to see beyond the typical campaign imagery.» Ein weiterer Schnitt und der Blick streift durch das Innere einer typischen Bar des Mittleren Westens: Bud-Light Leuchtreklame, Kühlschränke, Fernseher und gerahmte Erinnerungen an den Wänden, hinter der Bar steht Jeff Sulls und sagt: «I like the family values of, like, Cruz, Rubio, people that have strong family values.»
Die Nachrichtenplattform RYOT hat das 360-Grad-Video «Inside The Iowa Caucus» mithilfe einer relativ neuen Technik produziert, die von der größten Onlinevideoplattform Youtube erst seit März 2015 unterstützt wird. Sie geht aus einer Innovation hervor, die sich auch der wohl bekannteste Vertreter dieser Zunft zu Nutze macht: Die Firma Oculus VR entwickelt seit 2012 das sogenannte Oculus Rift – ein Head-Mounted Display, also ein auf dem Kopf getragenes visuelles Ausgabegerät, das ursprünglich für Computerspiele konzipiert wurde. Damit werden Bilder entweder auf einem augennahen Bildschirm präsentiert oder gar direkt auf die Netzhaut projiziert. Die Technik soll das Eintauchen in virtuelle Situationen ermöglichen, die einem realen Erlebnis nahekommen.
Der kalifornische Internetguru Jaron Lanier prägte in diesem Zusammenhang bereits 1989 das Oxymoron der virtuellen Realität. Eine Vision, die mit dem Oculus Rift greifbar wird, für großes Aufsehen gesorgt hat und Facebook dazu brachte, die Firma für knapp 2 Milliarden Dollar zu erwerben. Die Summe macht deutlich, welches Zukunftspotenzial in dieser Technik gesehen wird. Auch Google investiert in die Innovation und arbeitet daran, sie für alle zugänglich zu machen. Während ein Oculus Rift für den Endverbraucher 741 Euro kostet, ist ein aus Pappe bestehendes Google Cardboard, bei dem das eigene Smartphone mit der passenden App zum Head-Mounted Display wird, schon für 15 Euro zu haben. Es macht ansatzweise erlebbar, worüber seit vielen Jahren fantasiert wird: Eine 3D-Umgebung, derart spürbar und lebensnah, dass sie «Presence» erzeugt, wie es bei den Entwicklern heißt. Durch den Brillenbildschirm kann man in simulierte Fantasiewelten eintauchen, sich dort umsehen und bewegen. Bei der Nachrichtensite RYOT nun weichen diese Fantasieorte tatsächlichen Schauplätzen des Weltgeschehens: So transportiert einen die Technik dort auch nach Aleppo; in ein Flüchtlingscamp in Calais; in ein zerstörtes Nepal nach dem Erdbeben –oder eben in den Wahlkampf von Bernie Sanders.
Wenn wir neben dem Präsidentschaftskandidaten der Demokraten am Rednerpult stehen, umringt von jubelnden, hoffnungsvollen Menschen, dann ist das Video «Inside the Iowa Caucus» in seiner intendierten Wirkungsweise nahe an dem, was der amerikanische Musikvideoregisseur Chris Milk in einem TED-Talk als «Empathie-Maschine» bezeichnet. Das wahrnehmungsphilosophische Prinzip, welches dieser Empathie-Maschine den Antrieb gibt, ist das der Immersion: Es besagt, dass sich die Wahrnehmung der eigenen Person in der realen Welt vermindert und die Identifikation mit einer Person in der virtuellen Welt vergrößert. Dieser Effekt soll vor allem dann ausgeprägt auftreten, wenn die virtuelle Welt überzeugend ausgestaltet ist. Oder eben – wie im Falle von RYOT – real ist. Durch die zusätzliche narrative Ebene – das Recherchematerial dafür liefern andere Nachrichtendienste wie etwa die Huffington Post – wird das Eintaucherlebnis verstärkt und authentifiziert. Im Beispiel kommen etwa die Bewohner Iowas zu Wort: der bereits zitierte Besitzer einer Bar, eine Studentin oder die Wahlkampfhelfer von Bernie Sanders.
So sind die aufwendig produzierten Videos eindeutig mehr als blosse Gimmicks. Sie lassen einen in Situationen eintauchen, die sich maßgeblich von der eigenen unterscheiden und machen diese weit besser erlebbar, als dies ein konventioneller Clip in den Nachrichten könnte. So etwa, wenn man im erwähnten Video zum Wahlkampf den Blick von Sanders Rednerpult aus schweifen lassen oder gemeinsam mit den Wahlhelfern gespannt auf den Fernseher blicken kann, auf dem die endgültigen Ergebnisse der Vorwahl in Iowa präsentiert werden. Durch die Schnitte innerhalb des dreiminütigen Videos wird man in immer wieder neue Situationen als Beobachter montiert und muss sich orientieren, umsehen, verorten. Oder eben: einfühlen.