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Auf einen Drink ins Radio
Onlineradios streben in die physische Welt. Zum Beispiel im Zürcher Kreis 4.
Zürich, Spätsommer 2018, Samstagabend. Im Blickfeld liegt die Kontaktbar Sonne, dahinter die Langstrasse. Das Kanzleiareal lässt sich erahnen, regelmässig fahren Polizeistreifen vorbei. Hier und dort trinkfreudige Gruppen und Einzelgänger. An der Kurzgasse, einen Steinwurf entfernt von der Partymeile, befindet sich der «Sender», das Hauptquartier des Zürcher Onlineradios GDS.FM. GDS steht für «gegen den Strom».
Zur Strasse hin leuchtet gut sichtbar ein «On Air»-Schild. Der Türsteher vor dem Eingang wirkt ungewöhnlich für ein Radiostudio. Ungewöhnlich ist auch das Studio selbst mit Discokugel und Bar: Prosecco, Negroni, Gin Tonic.
An einer Wand ist der Kosmos abgebildet. Ein Sinnbild dafür, dass von hier aus etwas in den Äther diffundiert? Der DJ spielt seine eklektische Auswahl fernab des Mainstreams: alter Soul, moderner House, groovender Funk. Ein weiteres «On Air»-Schild leuchtet über den Köpfen der tätowierten Gäste in Laufschuhen und Vintage-Mode. Das bekannte Zürcher Szenepublikum ergänzen unter 20- und über 40-Jährige, die sich in der familiären Atmosphäre des «Senders» sichtlich wohler fühlen als in hektischen Clubs. Einen Drink in der Hand, ins Gespräch vertieft oder auf die Musik konzentriert, bilden sie die temporäre Gemeinschaft von GDS.FM.
Trotz Bar-Atmosphäre steckt man also inmitten einer Radioübertragung. GDS.FM ist es geglückt, das körperlose Medium des Radios in den Zürcher Kreis 4 zu holen, als Erlebnisradiostation mit physischer Präsenz. Man ist bei GDS.FM am Puls der Zeit: Vielerorts versuchen sich (Internet-)Radiostationen an einer stärkeren Verschränkung von online und offline. So hauchen sie einem alten Medium neues Leben ein.
Vom Staatsmedium zum Privatfunk
Bis in die 1980er-Jahre war das Medium Radio – dessen Ursprung auf Militärtechnologie zurückgeht – eine Monokultur: ein zentralisiertes Staatsmedium mit entsprechendem Programm. Während des Nationalsozialismus bedeutete dies in Deutschland eine Entwicklung zum Propagandamedium. In der Schweiz waren zur gleichen Zeit Übertragungen von Fussball-Länderspielen, Volksmusik und dem Wetterbericht die Norm, gestaltet durch die Schweizerische Rundspruchgesellschaft (SRG).
Gesetzesänderungen der frühen 1980er-Jahre ebneten dem privaten Rundfunk den Weg. Allerorten entstanden nun Lokalradios, Nischensender und Laien-Programme, die dem vorherrschenden Monopol der öffentlich-rechtlichen Sender Konkurrenz machten und sich zu einem wichtigen Korrektiv entwickelten. Sie setzten ein Statement: Viele dieser Radiostationen wurden aus der Anstrengung einer Community heraus aufgebaut, oft ehrenamtlich und werbefrei. Was zählte, war der Inhalt. Damit bildeten sie einen Gegenentwurf zum Ansatz grosser Medienkonglomerate – die es natürlich auch im privaten Rundfunk gab und gibt.
Die Tatsache, dass in der Schweiz die diesjährige No-Billag-Initiative beim Versuch scheiterte, ein historisch gewachsenes Konstrukt zu torpedieren, zeigt die ungebrochene Relevanz unserer vielstimmigen Medienlandschaft und den klaren Wunsch der Bevölkerung, sie zu erhalten.
Das gleichberechtigte Nebeneinander von Information, Unterhaltung, Nische und Mainstream ist ein Gut, von dem alle profitieren. Denn obwohl der grösste Teil der Gebühren zur SRG fliesst, werden auch Lokalsender mithilfe der Beiträge finanziell unterstützt. GDS.FM profitiert ebenfalls von Billag-Geldern: Ein Teil der Antennenkosten kann durch sie finanziert werden.
Alternativ und subkulturell
Wohl nicht zufällig fiel die Entwicklung des Privatfunks in die Phase der gesellschaftlichen Individualisierung während der 1980er-Jahre. Alternative Lebensentwürfe und zahlreiche Subkulturen fanden sich endlich auch im Radioangebot repräsentiert. Im Zürcher Kreis 4 wurde 1983 Radio LoRa gegründet, das älteste Gemeinschaftsradio der Schweiz, dessen Programm «so bunt und vielfältig wie die Meinungen, Kulturen und Musik der Menschen in Zürich» sein will.
Konkret bedeutete und bedeutet dies Raum für experimentelle Radioformen, Radiokunst und Sendungen in zwanzig verschiedenen Sprachen. Radio LoRa ist ein Sender mit Haltung, alles andere als nivellierter Einheitsbrei. Wer einen Nachmittag lang dem Programm folgt, kann eine Reise in die weite Welt hinaus machen – oder aber durch die Widersprüche, Spannungen und liebenswerten Eigenheiten der vibrierenden Zürcher Stadtkreise 4 und 5.
Auch dort findet sich, in konzentrierter Form, die Welt. Dank der Piazza Cella im Langstrassenquartier rückt Zürich näher zu Italien. Und Italien liegt direkt neben Palästina: Hummus, Schawarma, Falafel gibts beim «Palestine Grill». Den jeweils passenden Worldsound liefert Radio LoRa mit «L’ora italiana», einer seiner ältesten Sendungen, oder «Voice of Palestine» (Kunst und Kultur auf Arabisch – sowie dankenswerterweise auf Deutsch).
Als während der Fussball-Weltmeisterschaft im vergangenen Sommer Brasilien spielte, verwandelte sich die Piazza in ein gelbes Trikotmeer. Natürlich sendete Radio LoRa dazu auf Spanisch und Portugiesisch.
Töggeliturnier und Powerpoint-Karaoke
Fussball übrigens sorgt, in Miniaturform, auch bei GDS.FM für Spannung. Der «Sender» lädt seit Kurzem zum Töggeliturnier ein: «Komm vorbei zum kicken, klotzen, bolzen und hacken», heisst es ohne Rücksicht auf orthografische Korrektheit in der Programmbeschreibung.
Für klassische Barunterhaltung wie das Töggeliturnier ist im «Sender» meistens der Mittwoch geblockt. Genau wie für den Mario Kart Cup. Oder das Powerpoint-Karaoke: Wer sich traut, entert die kleine Bühne, greift nach dem Laserpointer und hält eine Präsentation. Der Clou: Bevor es losgeht, kennt man weder das Thema noch die Folien. Fachbegriffe, Graphen, komplizierte Schaubilder, mathematische Funktionen und Fremdwörter. Lauter unbequemes Zeug, das Improvisationstalent verlangt und die Show zu einer Mischung aus Stand-up-Comedy und Poetry-Slam macht. Viele Teilnehmende sind Stammgäste. Achtung, Suchtpotenzial!
Oft gelingt die Performance. Manchmal besteht sie auch aus gemeinsam ertragenen Schweigeminuten. In solchen Fällen hilft der gut gelaunte Barkeeper mit Zwischenrufen aus. Das Publikum wirkt wie ein Haufen Studierender, die für einmal keine Studierenden sein müssen, aber alles anwenden können, was sie im Studium lernen. Schade eigentlich, wird das Powerpoint-Karaoke nicht bei GDS.FM übertragen. Solch ein dadaistisches Radioformat würde in der Dada-Stadt Zürich sicher auf Interesse stossen.
Die Leidenschaft des Sammlers
Ein Treffen mit Christian Gamp, dem 32-jährigen Gründer von GDS.FM. Am Nachmittag versprüht der «Sender» den Charme einer Bar bei Tageslicht: Der Boden hat diese gewisse Klebrigkeit, eine charakteristische Mischung aus Bierresten, Zigarettenasche und Strassendreck. Die Patina jeder guten Bar. Man riecht die Nächte, erkennt Spuren vieler Partys – und fühlt sich wohl.
Das «On Air»-Schild ist aus. Obwohl der «Sender» als Studio funktioniert, ist das Radioprogramm wegen fehlender finanzieller und personeller Kapazitäten nicht immer live. Eine Mischung vorselektierter Playlists und sogenannter Setblocks, speziell für GDS.FM aufgenommene Live- und DJ-Sets, begleitet die Hörerschaft 24 Stunden durch Tag und Nacht.
Auf der schattigen «Sender»-Terrasse erinnert sich Gamp an die Anfänge von GDS.FM: «Abgesehen von Radio LoRa hat mich das Radioangebot in Zürich genervt. Ich sah eine Lücke, die ich füllen wollte. Radio LoRa ist sehr politisch, weniger musikalisch. Mir fehlte eine Station, die lokalen Künstlern eine Plattform bietet und an die Clubkultur der Stadt andockt.» Der Fokus auf Zürich zeigt sich auch in Gamps DJ-Alias: Chrigi G. us Z.
Die Musikleidenschaft des Radiomachers dringt beim Reden ständig durch. Seiner Sammelwut verdanken sich integrale Künstler-Diskografien. Mit selbst gefundener Musik könnte er ein ganzes Wochenprogramm füllen, ohne ein Stück zu wiederholen. Auf ein bestimmtes Genre legt er sich nicht fest – gerade der Umstand, dass er von Hip-Hop über Disco und Funk überall musikalische Perlen findet, prädestiniert sein Profil für ein eigenes Radio.
Der Blick nach England
Vorbilder für GDS.FM waren Gemeinschafts- und Onlineradios anderswo. Voller Bewunderung erwähnt Gamp Englands Radiokultur: Piratensender, die altehrwürdige BBC und Onlineradios wie Rinse FM und NTS Radio, die über die Landesgrenzen hinaus bekannt sind, würden das ganze Spektrum und Potenzial des Radiomachens aufzeigen und beweisen, dass sich ein Nischenangebot neben mächtigen Akteuren behaupten könne.
Nischenangebote stiften Identifikation. Das britische Rinse FM, entstanden 1994 als Piratensender, ist das Zentrum einer grossen musikalischen Gemeinschaft und eine Heimat für kleine Underground-Labels, die regelmässige Sendungen bestreiten. Aufgrund der stetig gewachsenen Reputation gilt Rinse FM heute als Qualitätssiegel und wichtiger Mediator der britischen Musikkultur, von Dubstep über Grime zu Dancehall.
Einem vergleichbaren Anspruch, gemünzt auf die Schweiz und insbesondere auf Zürich, will auch GDS.FM genügen. Labels wie Miteinander Musik, Light of Other Days oder Phantom Island sind regelmässig im «Sender» zu Gast. Sie zeigen, wie die Schweiz klingt.
Sichtbar im Museum
Regelmässig live zu hören auf GDS.FM ist auch das junge Zürcher DJ-Duo Sentiment. Diesmal findet die Übertragung nicht wie gewohnt im «Sender» statt, sondern im Migros-Museum. Genauer: im von Heino Zobernig gestalteten Café. Schwarzes Interieur, bunte Gäste. Das Projekt amuze will mit Apéro, DJ-Set und Radioübertragung Millennials in Museen locken.
Das Obergeschoss des Migros-Museums nimmt die Videoarbeit «Show a Leg (Raus aus den Federn)» von Pipilotti Rist ein. Mit der Go-Pro-Kamera auf dem Kopf kann man in farbiges Licht tauchen oder sich auf Sitzsäcke fläzen. Der Anreiz, Installation und Gäste aus der Eigenperspektive zu filmen, soll eine grössere Interaktion mit dem Werk der Künstlerin forcieren.
Doch das beabsichtigte Happening kommt nur bedingt zustande. Viele der – tatsächlich eingetroffenen – Millennials folgen lieber der konventionellen Führung, plaudern bei Gratisdrinks oder wandern hinüber ins Café.
Für GDS.FM bringt diese Abendveranstaltung vor allem eines: Sichtbarkeit. Immer wieder kooperiert das Onlineradio für solche Live-Übertragungen mit Anlässen ausserhalb des «Senders». Openair Wipkingen, Brupbacherplatzfest und das Park Platz Summerfäscht waren nur einige Stationen der letzten Monate. Auch mit dem Schweizer Modedesigner Julian Zigerli spannte man zusammen, indem das Radioprogramm als Live-Beschallung seiner Modenschau genutzt wurde. Abgespielt über die Handys der Gäste als digitaler Soundtrack eines analogen Events.
Dilettantismus als Tugend
2012 ging Gamp, unterstützt vom Mitbewohner Rosi Pascal Rosamilia (der auch heute noch Teil des Kernteams ist), aus seinem Wohnzimmer zum ersten Mal mit GDS.FM auf Sendung. Alles, was es dafür brauchte, waren ein Server und eine Homepage. Nach Stippvisiten im Campusradio der ETH war der Wunsch nach einem eigenen Rund-um-die-Uhr-Programm gross. Erfüllen konnte er ihn sich 2014, nach zwei Jahren unregelmässigem Betrieb.
Das Internet hat in der Mediendistribution eine demokratisierende Rolle gespielt. Nie war es leichter, eigene Inhalte in den Äther zu senden. Allerdings war auch die Konkurrenz nie grösser. Typische Symptome des 21. Jahrhunderts, die sich in Film und Fernsehen genauso beobachten lassen wie im Radio: Der Mainstream verliert an Bedeutung, die Kulturöffentlichkeit fragmentiert sich mehr und mehr, und wer Inhalte produziert, hat oft mit prekären Verhältnissen zu kämpfen, zumindest in der Nische.
Denn wer sich der Einflussnahme grosser Investoren verweigert, verzichtet natürlich auch auf ihr Geld. Das hat Konsequenzen für die Finanzierungs- und Geschäftsmodelle – auch für GDS.FM und den «Sender». Gamp betont, dass es keine Querfinanzierung von Bar und Radio gebe. Ein Vereinsmodell deckt die Kosten des Radios: Die Mitgliedschaft im Verein GDS.FM kostet 65 Franken pro Jahr und finanziert Server, Technik und kleine Löhne für die Macher. Über 700 Mitglieder hat der Verein bereits.
Damit setzt GDS.FM auf ein Modell, das – ähnlich dem der Republik – an die Zahlungsbereitschaft der Nutzer appelliert. Im internationalen Vergleich ist es eher selten zu finden. Während sich andere Onlineradios vor allem durch Events, Sponsoring und Werbung finanzieren, bleibt GDS.FM nur seinen Mitgliedern verpflichtet. Zuhören kann man aber auch ohne Mitgliedschaft.
Von online zu offline
Und wie kam es zum «Sender», der im Kreis 4 seit mittlerweile anderthalb Jahren präsent ist? Gamp: «Er ist entstanden, um GDS.FM weiter zu professionalisieren und eine Plattform für kleine, anspruchsvolle Konzerte oder Partys zu schaffen. Wir hatten schon lange Events organisiert, und bei unseren ersten Sendungen waren oft Leute zu Besuch. Das gefiel uns. Dem wollten wir Beständigkeit geben. Dabei hilft dieser Ort sehr.»
Vorreiter für ein Radio mit städtischer Präsenz war das East Village Radio, das in den frühen 2000er-Jahren ein Ladenlokal in Manhattan bezog, um eine stärkere Verknüpfung mit der Nachbarschaft zu fördern. Auf das East Village Radio als Inspiration verweist auch Orpheu de Jong, der Gründer des Red Light Radio in Amsterdam, eines weiteren bekannten Gemeinschaftsradios. Seit Jahren ist es mitten im Amsterdamer Rotlichtviertel angesiedelt. Eine Oase für Musik, zwischen Prostitution und Drogentourismus: Studio, Treffpunkt der Szene und Büro in einem.
Christian Gamp sagt, der «Sender» habe ihm die Möglichkeit verschafft, seinen Job in der Werbung an den Nagel zu hängen und sich voll der Radioleidenschaft zu widmen. Nach eineinhalb Jahren hat man sich im hart umkämpften Ausgehquartier einigermassen etabliert – und noch viel vor. Der Keller des Gebäudes bietet ungenutztes Potenzial. Auch der erste Stock mit den Büros könnte besser genutzt werden, für Workshops, mehr Live-Übertragungen oder andere Vermittlungsangebote.
Der Traum am Horizont: ein Zentrum für Radiokultur. Auf dem Weg dorthin punktet GDS.FM schon jetzt mit einem attraktiven Radioangebot, das mittlerweile ein respektables Publikum erreicht. Alleine online wird das Radio über 45’000 Stunden pro Woche gehört. Zählt man jene User mit, die per Digitalradio dazuschalten, sind es deutlich mehr – grösstenteils in der Schweiz, aber auch in Deutschland und anderen Ländern. Online für die Welt, offline exklusiv für die Bargäste in Zürich.