Published in: Kunstbulletin 7/8 2018
Alfredo Jaar - Realitätsprüfung
Alfredo Jaar als rastlos zu bezeichnen, ist wohl keine Übertreibung. Laut eigener Aussage ist er 250 Tage im Jahr auf Reisen, um sich mit den oft schonungslosen Realitäten dieser Welt auseinanderzusetzen. Jetzt ist auch Zürich unter dem Brennglas: Für das Projekt ‹Neuer Norden› schlägt Jaar einen einfachen, aber optimistischen Perspektivenwechsel vor. So lässt er mitten auf dem Marktplatz in Oerlikon die Gleichung ‹Kultur = Kapital› über der Fassade eines Warenhauses in Grossbuchstaben aufleuchten.
Wir leben in Zeiten, in denen die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit bisweilen kaum zu ertragen ist. Es gleicht einer Sisyphusarbeit, die zahllosen Katastrophen, Tragödien und Missstände dieser Welt im Blick zu behalten, ohne tatsächlichen Einfluss darauf nehmen zu können. Das kann verschiedene Strategien zur Folge haben: Die Flucht in den endlosen Möglichkeitsraum der Fiktion ist eine, den eigenen Blick auf bestimmte Felder zu verengen eine andere. Doch manche wählen auch die Rolle des Sisyphus. Es ist zwar aufreibend, sich der Aufgabe des Verstehens und der Auseinandersetzung mit der Realität zuzuwenden, doch mit den Mitteln der Kunst, diesem Fundus unterschiedlicher Möglichkeiten, vielleicht besonders lohnend: um aufzurütteln, einen neuen Blickwinkel zu eröffnen oder, ganz grundlegend, Kommunikation in Gang zu bringen. Der in Santiago in Chile geborene und seit den Achtzigerjahren in New York lebende Alfredo Jaar hat die Auseinandersetzung mit der heutigen politischen und sozialen Realität zu seinem Modus Operandi erklärt. Im Gespräch in der Lobby eines Zürcher Hotels definiert er seine Arbeit wie folgt: «Ich muss die Kontexte, in denen ich mich bewege und mit denen ich konfrontiert werde, verstehen. Und ich werde in der Welt nicht aktiv, bevor ich die Welt verstehe. In gewissem Sinn bin ich ein frustrierter Journalist, der nach anderen Ausdrucksformen gesucht hat.» Über die Jahre seiner aktiven künstlerischen Praxis hat sich der studierte Architekt, der seine Arbeiten als eine Melange aus sozialen, politischen, kulturellen und physischen Einflüssen versteht, vielen Tragödien dieser Welt angenähert: dem Genozid in Ruanda, der brutalen Kolonialisierung Angolas oder, aus seiner eigenen Biografie heraus, dem Macht- und Systemumsturz unter dem Diktator Augusto Pinochet in Chile in den Siebzigerjahren. Dies sind nur einige der Themen, die er in Installationen, Videoarbeiten oder Fotoserien aufzuarbeiten versuchte.
Zürcher Realität
Weiss man um seine Arbeiten zu den brutalen und dramatischen Ereignissen, wundert man sich, welche Realität Jaar in der Schweiz und besonders in der liberalen Zürcher Blase vorgefunden hat und zu einem Kunstwerk im öffentlichen Raum formen möchte. Im Rahmen des Projekts ‹Neuer Norden› wurde er zusammen mit über dreissig anderen Kunstschaffenden eingeladen, sich mit den städtebaulichen Veränderungen in Zürichs Agglomerationen Seebach, Schwamendingen und Oerlikon auseinanderzusetzen. Im Verlauf des Gesprächs gibt Jaar seine Einschätzung der Zürcher Realität zu Protokoll: «Zürich ist eine sehr reiche Stadt, in der man die Macht des Geldes unmittelbar spürt. Geld ist Macht, darüber gibt es keine Zweifel. Doch das kulturelle Angebot in Zürich ist ebenfalls sehr beeindruckend und in der ganzen Stadt präsent. Deswegen schlage ich in meiner Arbeit einen Perspektivenwechsel vor, der impliziert, dass das wahre Kapital die Kultur und nicht das Geld ist. Auf einem Gebäude, das eine schon fast utopisch-sozialistische Fassade hat, habe ich nun also ein grosses Neonschild installiert, das Tag und Nacht leuchtet und auf dem ‹Kultur = Kapital› zu lesen sein wird. Damit nehme ich natürlich Bezug auf die Arbeit von Joseph Beuys ‹Kunst = Kapital› und erweitere sie um die ganze kulturelle Sphäre.» Ein simples, aber überzeugendes Statement, das Jaar bereits an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt gezeigt hat (u. a. beim Lichtparcours Braunschweig 2016) und das vielleicht nicht die Fallhöhe und Dringlichkeit anderer Auseinandersetzungen des Künstlers bietet, aber in Zürich ein richtiges und wichtiges Signal sendet.
Raus aus den Museen
Dass die Kunst im öffentlichen Raum auch fern von Stadt- und Kunstmarketing ihre Berechtigung hat, kann auf Grund zahlreicher negativer Beispiele schon einmal in Vergessenheit geraten. Alfredo Jaar zählt Interventionen ausserhalb des geschützten Raums des Museums dennoch zu einem entscheidenden Teil seiner Arbeit und weiss diese Strategie auch zu begründen: «Die Kunstwelt ist eine Insel für Insider. Ich hatte schon immer das Verlangen, möglichst viele Menschen mit meiner Kunst zu erreichen. Deswegen habe ich, neben der Arbeit im Museum, bereits über 75 Interventionen im öffentlichen Raum rund um den Globus realisiert, die einen Dialog mit einem Publikum provozieren, das sonst kaum mit zeitgenössischer Kunst in Kontakt kommt. Das rührt sicherlich auch von meiner Ausbildung als Architekt: Für mich ist es völlig normal, in der Öffentlichkeit zu arbeiten, anders geht es nicht.»
Der flexible Optimist
Dieser sinnvolle und natürlich nachvollziehbare Ansatz muss die Folgefrage erlauben, ob der Architekt, der Kunst macht, nicht trotzdem immer eine ohnmächtige Figur bleibt, trotz grösserer Reichweite seiner Arbeiten. Auf solch philosophischem Terrain fühlt sich der Chilene wohl: «In jeder Arbeit beschleicht mich irgendwann ein Gefühl der Vergeblichkeit, das mich alles in Frage stellen lässt. Ob meine Kunst die Leute interessiert oder ob sie wirklich etwas verändern kann. Der Zweifel ist immer da. Ich halte es bei diesem Zwiespalt mit Antonio Gramscis Maxime, intellektuell pessimistisch, aber willentlich optimistisch zu sein. Mein Intellekt zweifelt auf Grund der Fragen, die ich zuvor erwähnte, aber mein Wille verlangt von mir, es trotzdem zu versuchen, weil ich in letzter Konsequenz hoffe, einen Unterschied machen zu können. Und über all die Jahre, in denen ich als Künstler aktiv bin, habe ich festgestellt, dass die Kunst tatsächlich einen Unterschied machen kann. Oft scheitere ich, aber manchmal gelingt es.» Man möchte diesen Optimismus verstehen und noch etwas genauer wissen, wie die Ohnmacht der Kunst überwunden werden kann. Gerade in der heutigen Zeit, in der die Menschen es gewohnt sind, Tragödien zu erleben, unmittelbar und direkt betroffen in allen Teilen der Welt, oder durch ihre Smartphones und das Internet. Jaar bleibt unbeirrt – und ganz der Schüler Antonio Gramscis: «Es wird unbestreitbar immer schwieriger, Künstler zu sein und Kunst zu machen. Die Menschen sind immer informierter und werden konstant stimuliert: durch ihre Computer und Telefone, durch die Medien und die Werbung. Dieser Informationsexzess führt zu einem Gefühl der Überwältigung. Die Kunst konkurriert mit so vielen Stimuli und setzt sich in den meisten Fällen nicht durch. Das zwingt uns, und deswegen unterrichte ich auch so gerne, gemeinsam nach neuen Modellen, Strategien und Denkweisen für die Kunstproduktion und -rezeption zu suchen, um auf diese neuen Realitäten reagieren zu können. Es bleibt wichtig, zu improvisieren, zu spekulieren, Risiken einzugehen und Regeln zu brechen, um unsere Welt zu verstehen. Ich bin überzeugt: Der einzige Weg, als Künstler zu überleben, ist, flexibel zu bleiben und mit offenem Blick durch die Welt zu gehen.»
Alfredo Jaar (*1956, Santiago de Chile), lebt in New York
Einzelausstellungen (Auswahl)2017 Alfredo Jaar: The Garden of Good and Evil›, Yorkshire Sculpture Garden, Yorkshire, England2016 Alfredo Jaar: The Sound of Silence›, Wits Art Museum, Johannesburg, Südafrika2013 Alfredo Jaar›, Chilenischer Pavillon, La Biennale, Italien2012 Alfredo Jaar: The Way it is. An Aesthetics of Resistance›, Berlinische Galerie, Neue Gesellschaft für Bildende Kunst e. V. und Alte Nationalgalerie, Berlin, Deutschland2001 The Silence: The Rwanda Project 1994–2000›, International Museum of the Red Cross, Genf, Schweiz
Gruppenausstellungen (Auswahl)2018 Art and Conspiracy›, Met Breuer, Metropolitan Museum of Art, New York, USA2017 99 Cents or Less›, Museum of Contemporary Art Detroit, USA2013 Americana›, Pérez Art Museum, Miami, USA2010 29e Biennal de São Paulo›, São Paulo, Brasilien