Published in: Ines Kleesattel (Hg.), Ruedi Widmer (Hg.): Scripted Culture. Kulturöffentlichkeit und Digitalisierung. Diaphanes, Zürich, 2018.
The Taste Machine
Flushing Avenue, eine Hauptschlagader Brooklyns, gesäumt von Lagerhallen, Bodegas und Thriftshops, aber auch Coffeeshops mit exklusiver Auswahl, Boutiquen und hippen Bars. Inmitten dieses Potpourris: King Noodle. Angeboten wird südostasiatisches Streetfood und fruchtig-exotische Drinks aus bauchigen Bechern mit Schirmchen. Die Bedienung ist, dem Image Brooklyns entsprechend, sympathisch unprofessionell.
An einem Tisch des Restaurants sitzen eine Frau und zwei Männer; die zwei Letzteren sind die Autoren dieses Textes. Alle drei stammen, was auf die meisten Gäste des Restaurants zutreffen dürfte, nicht aus New York, nicht einmal aus Amerika, doch passen sie einwandfrei ins Bild. Kleidungsstil und Umgangsformen sind konform, dem Trend entsprechend und subtil beeinflusst von der Idee New York City: Die Vorstellung, das Bild dieser Stadt, ist Teil ihrer Kindheit, ihrer Jugend, ihres Erwachsenenlebens. Ohne je dagewesen zu sein, trugen sie – popkulturellen Erzeugnissen und später dem World Wide Web sei Dank – den Ort in sich. Und jetzt, wo sie hier sind, passen sie ganz gut ins Bild des neuen Brooklyn, des Brooklyn der Kreativen, der Generation Y, der Millenials, der in die digitalen Technologien Hineingewachsenen.
Die Musik, um die sich das Tischgespräch der Dreiergruppe mittlerweile dreht, fließt aus den Boxen in den Ecken des schummrig ausgeleuchteten Raums: eine Melange aus Pop- und Crossoverhits der Nullerjahre. Timbaland, Missy Elliot, Outkast – einflussreiche Figuren in der musikalischen Sozialisation der im King Noodle versammelten Generation, Vertreter des Pop-Universalgeschmacks ihrer Zeit. Dieser wurde, bevor Spotify, Facebook und YouTube kamen, von MTV und dem Radio definiert. Weitere Einflussgrößen: Musikzeitschriften, die großen Geschwister und ältere Freunde. Tonangebend war Amerika, vor allem New York: groß, cool, urban. Bevor der Trend zur unbedingten Individualisierung Mainstream wurde, gab es Popstars, deren Songs und Texte jeder im Raum kannte. Und so wird am Tisch nicht nur munter über das Großwerden mit R’n’B-Alben, ersten Musiktauschbörsen und langsamen Internetverbindungen diskutiert, sondern immer mal wieder mit den 50 Cents und Destiny’s Childs und Sean Pauls mitgesungen. Heute haben Leute zwischen 25 und 35 zwar verschiedene Präferenzen, doch die Nullerjahre bleiben der gemeinsame Nenner, und die Playlist des King Noodle bleibt einigermaßen erwartbar.
Darauf reagierend wird am Tisch die Frage formuliert: Ist das der Weisheit letzter Schluss, dass mir mehr dieses und dir mehr jenes gefällt, wir neuen Brooklyner aber doch alle weltweit irgendwie das Gleiche hören? Und dies in einer Zeit, in der wir es mit einer unüberschaubaren, kleinteilig ausdifferenzierten Musiklandschaft zu tun haben, in der es theoretisch gleich viele Geschmacksbilder wie Menschen geben müsste? Was heißt das: Pop wird digital? Was ändert sich gerade im Pop und den Ohren seiner Hörer, wenn Spotify mehr ist als ein Transportmittel?
Radio aktiv
Mitten in Manhattan, zwischen dem East Village und Greenwich Village, liegt die New York University. Mit ihren 55‘000 Studierenden okkupiert sie einen ganzen Block. Die größte Privatuniversität der Vereinigten Staaten ist eine Stadt in der Stadt, mit Restaurants, Shops, Museen. Und einem eigenen Radiosender: Die Station WNYU überträgt seit 1949 Sendungen zu allen Musikrichtungen, von Hip-Hop über Jazz zu elektronischer Musik. Ergänzt wird das Angebot durch Sportnachrichten, Künstlergespräche und Lesungen.
Es ist ein Dienstagabend im Mai 2016, Zeit für die Sendung Beats in Space, die im Kellerstudio der NYU gemacht wird. Am Sendepult sitzt seit 1999 Tim Sweeney, damals Student, heute international gefragter DJ. Das Konzept der Sendung ist mitverantwortlich für die Reputation, die er genießt. Sweeney lädt Künstlerinnen ein, die jeweils eine Hälfte des zweistündigen Sendungsslots musikalisch gestalten. Am heutigen Abend ist es Marcus Lambkin, ein alter Weggefährte Sweeneys aus seiner Zeit beim amerikanischen Electropunk-Label DFA, und besser bekannt unter dem Künstlernamen Shit Robot. Über die Jahre erarbeitete sich Beats In Space einen Kultstatus, mit zahlreichen treuen Hörerinnen und wiederkehrenden Gästen (Lambkin ist bereits zum dritten Mal zu Gast). Sweeney genießt den Ruf eines Tastemakers, seine Radiosendung kann durchaus als Vehikel der Musikpromotion verstanden werden. Die Gespräche mit den Gästen drehen sich um ihre neu erscheinenden Alben oder Singles, sie sind aufgelockert durch persönliche Anekdoten und gemeinsame Erinnerungen. Beim Zuhören entsteht der Eindruck eines lockeren Plausches, nicht eines orchestrierten und kritischen Interviews. Während DJs ihre Lieder oft nur ungern preisgeben, kann die bei Beats in Space gespielte Musik auch im Internet in Tracklists abgerufen werden. So fungiert Tim Sweeney zwar als Gatekeeper, der alleine über das Programm entscheidet und seine Hörer mit vollendeten Tatsachen konfrontiert. Doch tut er dies mit dem Anspruch, das Entdecken unbekannter Musik zu ermöglichen; seit 18 Jahren, im zunehmenden Sturm der Digitalisierung, aber weitgehend ohne jeden Algorithmus.
Gut eine Stunde vor der Sendung erinnert sich Sweeney im Interview in einem Restaurant neben dem Studiogebäude, an die Zeit vor Spotify und YouTube. Den ehemaligen Studenten sieht man ihm noch immer an. Er trägt Hornbrille und einen dunklen Cardigan. Sein akkurat gescheiteltes Haar verleiht dem 36-Jährigen das Aussehen eines erwachsen gewordenen Nerds. »Früher fand ich die Musik für meine Radioshow und meine DJ-Gigs in Plattenläden, das waren oft Zufallsfunde oder Empfehlungen des Verkaufspersonals. Heute findet so viel im Internet statt, die Empfehlungen gibt YouTube automatisch. Das finde ich nicht so befriedigend. Es fehlt der Reiz einer persönlichen Empfehlung oder eines Überraschungsfundes.«
Der Einfluss der Algorithmen von YouTube oder Spotify auf seine Rolle als Radio-Host und DJ sei spürbar, aber bedroht sieht sich Sweeney nicht: »Wenn die Algorithmen Zugriff auf genügend Daten haben, könnten sie möglicherweise etwas Ähnliches machen wie ich. Derzeit sind sie aber noch voraussehbar in einem Ausmaß, dass es langweilig ist.« Der DJ sieht außerdem das Medium Radio auf seiner Seite und betont den für ihn wichtigen Aspekt der menschlichen Individualität und Intimität: »In der Sendung gibt es kleine Interviews mit den Gästen, selbstgeschossene Polaroids und die Möglichkeit der Interaktion durch Telefonanrufe. Das involviert die Zuhörerinnen und schafft eine andere Verbindung als das schnelle Durchforsten nach neuer Musik auf Spotify. Außerdem ist das hier ein Collegeradio – es wird sicherlich nicht von einem Algorithmus übernommen.« Und in den Massenmedien? »Bei der BBC in England beispielsweise könnten die Algorithmen den DJs gefährlich werden. Dort kommt es darauf an, dass viele Leute zuhören und ein Algorithmus könnte möglicherweise besser prognostizieren, welche Musik viele Menschen hören möchten. Für Beats In Space ist das aber egal.«
Radiosender verlassen sich schon länger auf Algorithmen, etwa die der Musikplanungssoftware MusicMaster, die, anhand vorher festgelegter Regeln der Redaktionen, alle vorhandenen Musiktitel durchsucht und daraus die Songs für die jeweilige Sendung auswählt. Solche Regeln können beispielsweise besagen, dass keine zwei Lieder des gleichen Genres aufeinander folgen dürfen oder ein Lied nicht häufiger als zehnmal pro Woche gespielt werden darf. Tim Sweeneys setzt auf den Wert des menschlichen Kurators: »Radio hat definitiv eine Zukunft. Apple Music setzt auf Radio und auf Persönlichkeiten, die das Programm gestalten. Die Zuhörer scheinen immer noch daran interessiert zu sein, was die jeweiligen Kuratoren spielen und auswählen.« Wenn der DJ gelassen in die Zukunft blickt, dann wohl auch deswegen, weil er sich in einer komfortablen Situation befindet. Beats in Space ist keinerlei kommerziellem Erfolgsdruck ausgesetzt. Sein Geld verdient Sweeney mit Tourneen, namentlich in Nordamerika und Europa.
Identitätsfragen
John Seabrook, staff writer beim New Yorker, hat sein Büro in einem alten Gebäude an der Franklin Street, nur eine Straße vom Hudson River entfernt. Der rauchende Portier amtiert auch als Liftboy. Die Fahrt im Aufzug, dem die Deckenverkleidung fehlt, ist wenig glamourös. Im vierten Stock wartet John Seabrook, ein wenig verschlafen wirkend, an der Tür seines Büros. Er grüßt höflich, bevor er den Weg freigibt in sein Refugium, einen etwa 15 Quadratmeter großen Raum, ausgestattet mit Schreibtisch, einem durchgesessenen Sofa sowie Bücherregalen mit Werken von David Foster Wallace, einer Gitarre, Abhandlungen und Monographien über Hip-Hop und andere popkulturelle Themen. Im Raum verteilt liegen einige Gitarrenplektrons auf dem Boden, an den Wänden hängen Bilder seiner Frau und seiner Kinder. Im Regal steht zwischen den Büchern eine Schneekugel, in der kein Weihnachtsbaum beschneit wird, sondern das Wort Fuck.
John Seabrook arbeitet seit 1993 beim New Yorker, daneben verfasste er zahlreiche Bücher. Sein letztes, The Song Machine: Inside the Hit Factory aus dem Jahr 2015, sowie eine lange Reportage bei seinem Stammblatt über Spotify, die im Jahr 2014 erschien, sind Anlass dieses Treffens. Seabrooks Texte beinhalten eine intensive Auseinandersetzung mit der Musikproduktion und -rezeption im Kontext der technologischen Innovationen und damit einhergehenden ökonomischen Entwicklungen in den letzten zwanzig Jahren. Die Frage, inwiefern sich Geschmack bezüglich Popmusik überhaupt kreieren oder zumindest lenken lässt – ungeachtet, ob von Mensch oder Maschine –, ist dabei zentral.
Die Hände hinter dem Kopf verschränkt und entspannt zurückgelehnt, steigt Seabrook in die Geschmacksdebatte ein: »Der Musikgeschmack von Menschen ist weitaus komplexer als ein Algorithmus es vorhersagen könnte. Das grundlegende Prinzip des Amazon-Algorithmus funktioniert so gut bei Büchern, weil wenige Leute sowohl kommerzielle Groschenromane als auch Autoren wie Jane Eyre oder Jonathan Franzen lesen. Die Menschen haben in den klassischen Künsten meist einen recht engen Geschmack. Nicht so in der Popmusik: Es gibt viele, die hören Kelly Clarkson, die Sex Pistols und Jazz, was die Herausforderung für die Algorithmen von Spotify oder Apple Music so groß macht. Durch sie wird versucht, etwas logisch zu modellieren, das nicht zwangsläufig logisch ist und außerdem maßgeblich durch Identitätsfragen oder das soziale Umfeld beeinflusst wird.«
Identitätsfragen sind in seinem Verständnis die große Hürde, die ein Algorithmus noch nicht überwinden kann. Er erzählt von seinem Sohn, dessen Musikgeschmack als Teenager in einem großen Ausmass von Freunden beeinflusst sei. »Wenn jemand als Teenager eher auf einen Algorithmus hört als auf sein soziales Umfeld, dann stimmt etwas nicht. Algorithmische Empfehlungen funktionieren vermutlich besser bei denjenigen, deren Geschmack schon ausgeprägter ist, um mehr von dem zu finden, was bereits gefällt.«
Der Vergleich mit dem Radio drängt sich auf. Im Gegensatz zum Individualismus, den Spotify ermöglicht und forciert, wirkt das Radio, so Seabrook, meistens nivellierend. Der spezifische persönliche Geschmack werde dort nur selten berücksichtigt, gesendet werde das Selbe an viele. Anders bei Spotify & Co.: »Für die Arbeit an meinem letzten Buch habe ich zu Recherchezwecken Ariana Grande, Katy Perry und Britney Spears gehört. Gleichzeitig aber bin ich aus privatem Interesse in zeitgenössischen Hip-Hop eingetaucht, wie zum Beispiel jenen von Young Thug. Der Algorithmus versucht, sich darauf einen Reim zu machen. Das geht natürlich oft total daneben und trifft nur selten den Sweetspot. Kommerzielles Radio hingegen erlaubt sich diese Ausbrüche nicht und bleibt eher in der Mitte, um möglichst viele Leute zu erreichen.«
Die stetige Verfeinerung und Optimierung der Algorithmen von Spotify, Apple Music, Soundcloud oder YouTube kann auch als ein Angriff auf die verwachsenen Strukturen der Musikindustrie gelesen werden. Labels, obwohl von Seabrook als grundsätzlich technophob beschrieben, passen ihr Verhalten den neuen Möglichkeiten an: »Die A&R-Abteilungen der Plattenfirmen luden früher Bands zum Vorspielen ein. Oder die Labelscouts gingen, um sie spielen zu hören, in die Clubs. Heutzutage gehen sie auf YouTube, wo bereits durch die Klickzahlen deutlich wird, wie viele Leute die Band kennen. Der Prozess wurde noch nicht vollständig von Maschinen übernommen, aber er wird in Teilen durch Algorithmen automatisiert. Soziale Medien fungieren als Kuratoren von Talent. Ich denke, das ist der Beginn der Veränderung einer ganzen Branche.«
Die Entstehungsgeschichte der Netflix-Erfolgsserie House of Cards wird Thema des Gesprächs: Die Auswertung von Nutzerdaten und die darin gespiegelten Präferenzen und Schauspielerinnen lieferte die Basis für das Konzept und die wichtigsten Entscheidungen bei Crew und Cast. Den ausgewählten Kreativen wurde zwar maximale künstlerische Freiheit und Budget-Verfügungsgewalt eingeräumt, doch ihre Auswahl wurde letztlich, via Nutzerdaten, vom Publikum vorgenommen. Gilt diese Logik der datengeleiteten Musikproduktion demnächst auch für Spotify und Konsorten? Seabrook, trotz ständig klingelndem Handy weiterhin zurückgelehnt-aufmerksam, sagt dazu: »Ich denke, wir bewegen uns in Richtung eines automatisierten Entstehungsprozesses von Musik, in dem das Gewicht des Autors abnimmt und diejenige von Big Data zunimmt.« Der potentielle Absatz spielt schon bei der Kreation eine maßgebliche Rolle. Das war zwar in der Musikindustrie schon immer so, lässt sich aber mit Hilfe der verfügbaren Daten immer konsequenter umsetzen.
Kein Kräftemessen
In einem modern ausgebauten, hippen Café namens Freehold am Williamsburger Ufer des East River sitzt DeForrest Brown Jr. Brown ist Mitte zwanzig und arbeitet als Musikjournalist für Mixmag, ein traditionsreiches britisches Magazin für elektronische Tanzmusik. Er spricht über sein Verständnis der Rolle des Musikjournalisten, über die New Yorker Szene und darüber, wie Musik in den Staaten funktioniere. So angeregt, dass ein vor ihm stehender Bagel bis zum Ende des Gespräches fast unberührt bleibt. »Ich muss meinem Boss ständig erklären, wie die Leute hier in Amerika Musik hören. Ich wuchs im Süden auf, da gab es keine Clubs.« Für ihn sei Clubmusik, wenn sie überhaupt eine Rolle spielte, ein Soundtrack gewesen – für Zeichentrickfilme, später für Autofahrten: »Elektronische Musik entdeckte ich über den Cartoon-Sender Adult Swim. Was dort zwischen den Sendungen gespielt wurde, hatte ich zuvor noch nie gehört und es hat etwas in mir ausgelöst. Das führte dazu, dass ich nachts um drei Uhr, als ich eigentlich schlafen sollte, aufgeregt in meinem Zimmer saß und auf die Musik-Intermezzi zwischen den Serien wartete.«
Wie elektronische Musik auch noch gehört werden kann, lernte Brown erst später kennen – über einen weiteren TV-Anbieter: Boiler Room, ein tief im Untergrund Londons entstandener Sender, der, wie Michael Stangl einmal sagte, nichts Anderes sein will als MTV, aktualisiert für die 2010er Jahre: Der Ort, an dem man neue, aufregende Musik entdecken würde. Ähnlich wie in der Radiosendung Tim Sweeneys ist es eine Stimme, die zu vielen (fast zwei Millionen Fans bei Facebook) spricht. Auch bei Boiler Room sind es Gatekeeper, die entscheiden, was angesagt ist und was nicht. Eine Kamera wird auf einen DJ oder Live Act gerichtet, der – anders als im Club – das Publikum im Rücken hat. Durch diesen einfachen Perspektivenwechsel lässt sich ein Rave über Live-Stream, YouTube und Co. bis ins Schlafzimmer übertragen. So auch in jenes von DeForrest Brown Jr. im Alabama der frühen Zehnerjahre. Brown erzählt, dass er, nachdem er Boiler Room entdeckt habe, Freunde zu sich ins Studentenwohnheim einlud, um Teil der virtuellen Erweiterung des Clubs zu sein und gemeinsam vor dem Computer-Bildschirm zu tanzen. Das seien die Erlebnisse gewesen, die am nächsten an eine Cluberfahrung kamen, wie sie sein Boss Nick DeCosemo, ein britischer Rave-Veteran und Chefredaktor von Mixmag als selbstverständlich empfindet.
Brown betont, dass es nicht um Kräftemessen von Menschen mit Maschinen gehe, sondern darum, in der Musikproduktion und -rezeption Nischen für die jeweils beteiligten Akteure zu finden: »Es muss nicht zwingend eine Person sein, die für die Musik einsteht, es können auch Plattformen oder Netzwerke sein.« Die Frage ist nicht, wer oder was Musik präsentiert, sondern wie. Eine nichtmenschliche Spielform ist beispielsweise Hatsune Miku, ein Avatar, das computergenerierte und von Algorithmen komponierte Lieder singt und damit weltweit zum Megastar avancierte. Brown, der über die Auseinandersetzung mit elektronischer Musik zum Nachdenken über technosoziale Strukturen kam, schwebt eine Zukunft vor, in der sich Strukturen nicht konkurrenzieren, sondern ergänzen. In der Maschinen von Menschen profitieren, und vice versa.
Beim Verlassen des Cafés bemerkt er ein paar Bekannte, die sich kurz davor an einem Tisch hinter ihren Laptops einrichteten. Es handle sich um Kollegen, die für Vice arbeiteten. Vice, das als Lifestyle-Magazin begann und dann zur globalen News- und Videofabrik wurde, habe einen ganzen Block in Brooklyn aufgekauft, woraufhin drei etablierte Musikclubs weichen mussten. Brown geht an den Tisch der Bekannten und weist sie auf eine Veranstaltung Ende Woche im Büro seines Arbeitgebers hin. Mixmag lädt immer mal wieder zu Partys ein und zeichnet diese auf – ähnlich wie das Boiler Room tut, nur mit kleinerer Reichweite.
»Eine Frage der Zeit«
An der von Brown angepriesenen Party im Hinterzimmer des Mixmag-Office, das sich am Brooklyner Fuß der Williamsburg Bridge befindet, tauchen die Kolleginnen von Vice dann doch nicht auf. Dafür Matt Liston, eine Internetbekanntschaft Browns. Vor allem in Musikforen für experimentelle elektronische Musik tauschten sie sich aus; nicht zuletzt, weil Liston an der amerikanischen Westküste wohnt und die Szene nicht an einen Ort gekoppelt ist. Zurzeit hält sich Liston geschäftlich in New York auf, danach folgt ein Trip nach Europa. Mit seinem seinem NON-T-Shirt und dem zotteligen Bart passt er nicht wirklich ins Bild der Party. Zu unangepasst, zu unförmig. Der Besuch ist ein Gefallen für den Internetfreund DeForrest. So verbringt Liston einen Großteil des Abends draußen vor der Tür, vapend.
Zwei Tage darauf im Bushwick Public House an der Myrtle Avenue. Das Lokal wirbt mit einer kleinen Auswahl an Kaffee, Bier und Kultur. Mit 12er-Steckdosenleisten am Boden zwischen den Tischen zeigt es sich Laptop-Nutzerinnen-freundlich. Liston sitzt an einem der Tische am Fenster, von dem aus man die vorbeifahrenden Wagons des M Train auf der Überführung aus blaugrünem Stahl beobachten kann. Sein Blick ruht allerdings auf den Laptop-Bildschirm vor ihm. Er trägt klobige schwarze Kopfhörer mit glänzenden blauen Verzierungen. Flink tippt er – bis er seine Gäste bemerkt. Liston, 24, arbeitet für das Internet-Startup ConsenSys. Sein Arbeitsgebiet sind »Future Markets«, also der Handel mit Informationen zu künftigen Ereignissen. Sportwetten und der Handel mit derivaten Finanzprodukten also? »Future Markets gibt es auch anderswo«, entgegnet Liston. Und anders als in den genannten Beispielen würde Bereicherung durch Spekulation in seinem Gebiet nur eine Nebenrolle spielen. Es gehe um das Aggregieren von Informationen und das Durchbrechen von verkrusteten Strukturen. Als Beispiel nennt Liston die Informationsbeschaffung in Kriegsgebieten. Die verfügbaren Daten aus einer Krisenregion sind, so meint er, oft von Machthabern beeinflusst oder gar gefälscht. Könnte man Informationen dezentral und aus erster Hand beschaffen, also auf Einschätzungen der Menschen vor Ort zurückgreifen, so hätte man eine weit weniger verzerrte Perspektive.
Der Gedanke dahinter ist jener der Blockchain: Dezentrale Strukturen, direkter Zugriff, keine Mittelsmänner. Auch in der Musik sieht Liston Anwendungsmöglichkeiten, etwa bei der Lizenzierung: »Stellt euch vor, ein Musikstück wäre in einem Index registriert und dezentral abgelegt. Sobald jemand es abspielen möchte, würde die Transaktion mittels eines Smart Contracts abgewickelt. Das wäre dann eine Art automatische Lizenzierung, die einen großen Teil der herkömmlichen Labelarbeit auf die Probe stellen würde.« Auch Spotify stützte sich anfänglich für den Vertrieb auf das Peer-to-Peer-Verfahren, bei dem Daten dezentral von Nutzerin zu Nutzer übermittelt werden. 2014 stellten sie ihren Service aber so auf, dass die gestreamten Daten zentral von Spotify-Servern übermittelt werden. Auch geschieht die Lizenzierung nicht automatisch zwischen Herstellerin und Nutzer, wie es Liston vorschwebt, sondern es sind nach wie vor verschiedene Zwischenhändlerinnen eingeschaltet – wozu neben den Labels auch Spotify selbst zählt.
In letzter Konsequenz ließe sich das gesamte System bedürfnisgerechter gestalten: »In meinen Augen hat super-individualisierte Musik großes Potential. Etwa wenn aufgrund von Meta-Daten bezüglich der jeweiligen Historie und Vorlieben ein personenbezogenes Erlebnis geschaffen wird.« Also erkennt ein Computer, was die jeweilige Konsumentin anspricht und programmiert das Werk entsprechend um, während der Künstler zu Hause sitzt und Kaffee trinkt? »Ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit, bis Algorithmen sich einen organischen Überblick über komplexe Informationen verschaffen können.« Die Technologie, so Liston, wäre da. Zurzeit scheitere es nur daran, dass die verschiedenen Technologien und Systeme noch nicht so verbunden werden könnten, dass sie reibungslos miteinander funktionieren. Und das habe zwei Gründe: »Einerseits spielt die Größe eine Schlüsselrolle – wobei das Mooresche Gesetz das früher oder später richten wird –, anderseits müssen die Technologien und Systeme aneinander angeglichen werden. Denn je komplexer ein Algorithmus, desto wichtiger ist es, dass die einzelnen Teile miteinander funktionieren. Bis es soweit ist, kann man die möglichen Auswirkungen nur schwer erkennen.« Wann es soweit sein wird, darauf hätten existierende Institutionen einen maßgeblichen Einfluss. Labels etwa setzten viel daran, die aktuellen Strukturen möglichst lange aufrecht zu erhalten.
Musik wäre ohnehin nur eines von vielen Anwendungsgebieten. Liston erzählt mit Verve von smarten Städten. Smart Contracts würden eine Schlüsselrolle spielen und viele Abläufe von selbst erledigen. Zudem würden Meta-Daten, ähnlich wie beim Erstellen von individualisierten Musik-Erfahrungen, die Effizienz in manchen Bereichen drastisch erhöhen – etwa im Personenverkehr, in der Finanzbranche, auch im Justizsystem. Blockchains und Kryptowährungen funktionierten in diesen Städten der Zukunft als Bindeglied zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz, ist sich Liston sicher. Hört man ihm zu, verschwimmen reale und virtuelle Welten. Die Vision ist verheißungsvoll, verlockend. Doch sie scheint weit entfernt und unklar. Welche Rolle etwa bleibt uns Menschen, wenn uns künstliche Intelligenzen überlegen sind? Was wäre, wenn unsere Arbeit und unser Geld kein Gewicht mehr haben, unsere Daseinsberechtigung? Würden wir zu faul daliegenden Wesen, deren Gelüste von Maschinen befriedigt werden?
Schöne neue Welt der Musik
Vor der unscheinbaren Eingangstür des Trans-Pecos, gut eine Meile östlich des Bushwick Public House, flackert einsam eine große Kerze. Auf einer Kreidetafel daneben wird das Programm des Abends angekündigt: ein vom Musiker Robert Aiki Aubrey Lowe kuratierter Abend mit avancierter elektronischer Musik, Eintritt 5 Dollar. Auf der Bühne im Erdgeschoß sitzt Marc Kate, ein multidisziplinärer Künstler aus San Francisco. Er bedient Maschinen, die vor ihm auf dem Tisch aufgebaut sind. Damit erzeugt er schwere Ambient-Klänge, die während einer halben Stunde durch den Raum wabern. Nach seiner Performance folgt ein DJ, der langsame Beatstücke spielt, die Stimmung ist entspannt. Dann ein Bruch: Knarzende Synthesizer-Klänge, eine energetische Sängerin, die ihr Mikro und sich selbst durch den Raum schleudert, und in den Ohren schmerzendes Feedback dominieren die Szenerie für die nächsten 45 Minuten. Die Reaktionen auf die Präsentation von Wetware, so der Name des Duos auf der Bühne, reichen von erfreut bis irritiert.
Der Überraschungseffekt, der in den Gesprächen der Woche immer wieder eine Rolle spielte, entfaltet im Trans-Pecos seine volle Wirkung. Salopp könnte man von einer Wundertüte sprechen, die Robert Aiki Aubrey Lowe zusammengestellt hat. Und doch entstehen Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Performerinnen. Lowe bleibt im Hintergrund. Aus einer der Ecken des Lokals beobachtet er die Konzerte. In seiner Arbeit als Musiker ist er am Potential des Synthesizers als selbstständiges Instrument interessiert und hat dieses immer wieder auf originelle Art und Weise neu ausgelotet. So hat er zum Beispiel eine technische Lösung entwickelt, die es möglich macht, den menschlichen Körper oder auch Pflanzen an einen Synthesizer anzuschließen.
Unter dem Eindruck von Lowes musikalischen Output und dem von ihm kuratierten Abend ist schwer vorstellbar, dass die Maschine den Menschen ablösen wird. Viel eher werden sich Mensch und Maschine stärker mit einander verbinden, ihre Alleinstellungsmerkmale verlieren und zu einem hybriden Organismus werden. Die Rollen und Aufgabenbereiche werden fluider werden, die Modelle der Musikproduktion, -rezeption, -distribution, -promotion und -präsentation werden sich grundlegend ändern. Zuweilen wirkt schon die Streaming-Gegenwart des beginnenden 21. Jahrhunderts wie eine in Erfüllung gegangene Utopie der Vergangenheit – etwa die von Edward Bellamy in seinem 1888 erschienenen Science-Fiction Roman Looking Backward ersonnenen music rooms, durch die Abonnenten rund um die Uhr Playlists zugespielt wurden, die in perfekter Qualität, unlimitierter Quantität und passend zu jeder Stimmung auf Wunsch die passende Musik spielten. Der Mini-Stress, selber zu entscheiden, welche Musik die richtige für einen bestimmten Augenblick sein könnte, entfällt. Die Konsumentin wünscht sich eine Stimme, die individuell zugeschnitten nur zu ihr spricht und nicht gleichgeschaltet zu vielen. Die Streamingdienste erfüllen diesen Wunsch immer konsequenter und präziser, sie wissen auch immer besser, was gefällt. Indem das System entmaterialisiert und omnipräsent wird, überwindet es physische Begrenzungen wie begrenzte Stückzahlen oder lokale Verfügbarkeit und holt auch die prä-industriellen Vergangenheit in den Welt gewordenen Speicher. Bushwick Dinner Music, Manhatten was a blank city oder Algorithmic computer music: das könnten Playlists für solch spezielle Momente und Situationen sein; zusammengestellt von einer Maschine, von einem Menschen oder in produktiver Symbiose. Willkommen in der Schönen neuen Welt der Musik.