Published in: zweikommasieben Magazin #16
Parrish Smith – Aufarbeitung
Stefan Chin-Kon-Sung, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Parrish Smith, betreibt musikalische Archäologie. Besonders deutlich wurde dieser Ansatz im Projekt Genesis Black, erschienen auf dem Niederländischen Label Knekelhuis. Dort durchforschte Chin-Kon-Sung Archivmaterial des Tropenmuseums Amsterdam mit dem Ziel, die Zuhörerinnen mit der Kolonialgeschichte der Niederlande und der Sklaverei in Surinam zu konfrontieren. Nicht zuletzt arbeitete er so auch ein Teil seiner persönlichen Geschichte auf. Es ist anspruchsvolle Kost, die trotz fehlendem Perkussionsgewitter eine ähnlich hohe Intensität besitzt, wie etwa sein Industrial-Projekt Volition Immanent mit Knekelhuis-Gründer Mark Van de Maat. Eine Mélange an Einflüssen also, welche der Amsterdamer in seinen Produktionen reflektiert und in Strukturen giesst, die eine schon fasst physische Präsenz erschaffen. Es ist «body music», die nicht nur auf den Dancefloor schaut. Mathis Neuhaus traf Chin-Kon-Sung für ein Gespräch über das Projekt zur Kolonialgeschichte und dessen Verordnung im weiteren Teil des Outputs des Niederländers.
Matthis Neuhaus: Ich möchte mit dir gerne über dein neuestes Projekt Genesis Black sprechen, das im August 2017 auf Knekelhuis veröffentlicht wurde.
Stefan Chin-Kon-Sung: Genesis Black ist verknüpft mit meiner eigenen Biographie und meine zweite Kollaboration mit einer kulturellen Institution. Die erste war eine Zusammenarbeit mit dem Amsterdamer Photographiemuseum FOAM. Dort wurde eine Ausstellung von Ai Weiwei gezeigt, die den Titel #SafePassage trug. Ich komponierte eine akustische Führung, die in Kombination mit den gezeigten Photographien eine holistische Geschichte erzählen sollte. Genesis Black habe ich nun zusammen mit dem Tropenmuseum, der Re:Vive Initiative und dem Nederlands Instituut voor Beeld en Geluid (Institut für Bild und Klang) entwickelt, die von dem Projekt für FOAM wussten und mich deswegen für eine Zusammenarbeit angefragt haben. Auf Grund meiner eigenen Biographie habe ich einen persönlichen Bezug zur Kolonialgeschichte Hollands in Surinam, welche ich in Genesis Black teilweise aufarbeite. Ich habe indische und chinesische Wurzeln und meine Grosseltern sind in die damals niederländische Kolonie Surinam migriert um zu arbeiten. Es ist also ein Migrationshintergrund, der zwar nicht unmittelbar mit der Geschichte der Sklaverei verknüpft ist, aber auf Grund meiner Grosseltern eine Nähe zu dieser Thematik hat. Ich fand es auch sehr interessant, die eigenen Wurzeln und Geschichte mit Hilfe dieses Projektes als einen wichtigen Teil der Niederländischen Identität kennenzulernen.
MN: Wie hast du dich diesem Thema und der Recherche, die damit einhergeht, genähert?
SC: Zunächst recherchierte ich die Geschichte der Sklaverei in Surinam. Dafür habe ich vor allem Texte von Anton de Kom gelesen, die einen integralen Bestandteil meiner Vorbereitung darstellten. Anton de Kom war ein einflussreicher Autor dieser Zeit, dessen Eltern in den 1830er Jahren noch in der Sklaverei geboren waren.
MN: Kanntest du seine Texte schon, bevor du angefangen hast, an dem Projekt zu arbeiten?
SC: Ich wusste von ihnen, habe sie jedoch erst detailliert während des Rechercheprozesses gelesen. Mein Vater sagte mir, ich müsste sie lesen, weil Anton de Kom eine sehr wichtige Stimme gegen die Sklaverei in Surinam war. Natürlich gibt es gibt zahlreiche Bücher über diese Zeit, aber nur wenige erzählen die Geschichten mit der Innenperspektive de Koms. Seine Texte sind sehr persönlich und es ist äusserst bewegend zu lesen, wie die Menschen behandelt wurden. Viele Bücher stellen die politische oder ökonomische Situation der damaligen Zeit dar, aber nicht, wie es den Versklavten erging. Deswegen erweitern seine Texte den Blick auf entscheidende Art und Weise. Ich habe versucht, diesen Ansatz ins Musikalische zu übersetzen, indem ich mit Feldaufnahmen arbeitete und den Produktionen dann beispielsweise Spoken Word Elemente hinzufügte. Ich begann meistens mit dem Komponieren der Musik und entwickelte diese Skizzen dann weiter, fügte die genannten Elemente hinzu
MN: Ich kann mir vorstellen, dass der Prozess entsprechend intim war.
SC: Sehr intim, auch weil ich Surinam besser kennenlernte. Ich war mir nie wirklich bewusst, was es bedeutete, dass meine Grosseltern zum Arbeiten dorthin migriert sind und was dort für Lebensumstände für die Einheimischen herrschten.
MN: Bist du während der Arbeit an Genesis Black nach Surinam gereist?
SC: Nein. Ich war in den Niederlanden und habe mit den Archiven der Institutionen gearbeitet. Den Auftakt des Projektes bildete eine Einladung des Tropenmuseums, das Research Center For Material Culture in Leiden zu besuchen. Dann nahmen wir – Ash Koosah und Clap!Clap! waren auch Teil des Projektes – an Führungen durch das Tropenmuseum hier in Amsterdam teil. Dort gibt es zum Beispiel einen Bereich, der sich exklusiv mit der Geschichte der Sklaverei in Surinam auseinandersetzt. Neben der Arbeit mit den riesigen Archiven suchten wir nach individuellen Zugängen, lasen Bücher, recherchierten im Internet und sprachen mit unseren Familien. Aber die Möglichkeit zu bekommen, Archive zu durchforsten deren Bestände bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurückreichen, war etwas sehr Besonderes. Die Relevanz der Informationen in diesen Archiven sollte auf keinen Fall unterschätzt werden. Wenn es nicht Menschen gegeben hätte, die aufschrieben oder aufnahmen, was damals passierte, hätten wir keinerlei Wissen über diesen entscheidenden Teil der Geschichte, der eine so wichtige Rolle für die Niederländische Identität spielt. Es gibt Aufnahmen von Riten, Bestattungen, Menschen die singen und rufen – unglaublich berührende Momente.
MN: Wie hast du dich entscheiden können, was davon du nutzen wolltest?
SC: Zunächst einmal habe ich darauf verzichtet, perkussive Feldaufnahmen zu nutzen. Ich fühlte mich stärker hingezogen zu den Gesängen und anderem inhärent menschlichen Material. Das galt es dann zu etwas Neuem zu modellieren, das aber immer noch auf seine Ursprünge verwies. Ich dehnte die Gesänge, fügte Hintergrundgeräusche hinzu und manipulierte sie so, dass sie eine abstrakte, sphärische Qualität bekamen. Ich habe auch versucht, eine Industrial-mässige Schwere zu erzeugen, die in meinen Produktionen immer eine wichtige Rolle spielt. Dann habe ich noch nach Material gesucht, in dem Menschen miteinander reden oder der Wald zu hören ist. Das führt dazu, dass beim Zuhören der Eindruck entsteht, man sei, wenigstens im Kopf, auch in Surinam. Es hat sich für mich persönlicher angefühlt, diese vorzugsweise direkt menschlichen Elemente zu nutzen.
MN: Inwiefern denkst du in deiner weiteren künstlerischen Arbeit in den Kategorien des Trans- oder Interkulturellen?
SC: Meinst du in Bezug auf Aneignung?
MN: In diesem Fall nicht unbedingt gemeint als Aneignung, sondern als Berücksichtigung verschiedener Blickwinkel und dem Kenntlichmachen dieser Blickwinkel.
SC: Die Geschichte der Sklaverei ist bekannt und ausführlich dokumentiert. Für mich war es deswegen wichtig, den Fokus auf kleinere und persönliche Geschichten zu richten. Über die indigene Bevölkerung Surinams, die von einer europäischen Elite teilweise ermordet wurde und die Überlebenden zum Fliehen zwang. Es war für mich wichtig, ein Stück zu diesem Thema zu machen. Es gibt auch eines, das sich mit den Lebensumständen auseinandersetzt – wie viel Nahrung zur Verfügung stand oder andere vermeintlich triviale Dinge. Das Thema der Aneignung ist ein Schwieriges, denn letztendlich geht es immer noch um Musik. Grundsätzlich finde ich, dass Musik für alle da ist und man damit machen kann, was man möchte. Es ist jedoch wichtig einen Respekt und eine Sensibilität für die Ursprünge des Materials zu pflegen. Auch wenn man House produziert, sollte man wissen, wo und warum diese Musik entstanden ist.
MN: Würdest du dich als politischen Musiker oder deine Musik als politisch bezeichnen?
SC: Nein. Ich versuche nicht, politisch zu sein. Sobald eine Textebene einzogen wird, bekommt Musik sicherlich schneller eine politische Ebene, aber ich versuche nicht, das aktiv zu forcieren.
MN: Du hast verschiedene künstlerische Projekte, priorisierst du zwischen ihnen oder ist das alles Teil der gleichen Sache?
SC: Das ist alles Teil der gleichen Sache. Ich habe nicht für jedes Projekt eine unterschiedliche künstlerische Strategie. In Kollaborationen ist es mir wichtig, dass ich mich nicht verstellen muss. Ich würde sie nicht eingehen, falls der emotionale und persönliche Zugang des Musikproduzierens fehlte. Ich glaube auch nicht, dass der Zuhörer darauf reinfallen würde. Es ist jedoch schon so, dass ein Projekt wie Volition Immanet durch die Zusammenarbeit mit Mark Van De Maat – dem Gründer vom Label Knekelhuis – zu etwas wird, das ich nicht alleine machen könnte. In Bezug auf die vorherige Frage könnte man sagen, dass er der Musik etwas hinzufügt, was man als politisch bezeichnen könnte. Er thematisiert Dinge, die über ein politisches Jetzt verfügen, welches für viele Menschen Relevanz hat. Ein fast schon massenpsychologischer Ansatz. Die Musik, die ich als Parrish Smith produziere, ist natürlich subjektiver, stärker auf mich bezogen. Aber all meine Projekte sind vereint durch eine ähnliche Intensität und eine organische Idee der Musikproduktion.
MN: Neben all dem: Was ist für dich simpler Spass? Ich frage, weil die Musik, die du produzierst und die Szene, mit der du assoziiert bist, eine gewisse Ernsthaftigkeit, fast schon Strenge, evoziert.
SC: Teilweise vielleicht sogar eine zu grosse Ernsthaftigkeit… Die Frage nach dem Spass beantworte ich mal mit Reggaeton und ähnlichem. Da meine Eltern ihre Wurzeln in Surinam haben, hörten wir zu Hause, als ich noch jünger war, oft karibische Musik: Salsa und Dancehall, der meiner Schwester sehr gefällt. Aber auch Iron Maiden, Janet Jackson – so etwas lief in friedlicher Koexistenz mit den zuvor genannten Genres. Wenn man in den Niederlanden aufwächst, sind Dancehall und Reggaeton nie weit weg. Es gibt kein Entkommen.
MN: Das Thema der musikalischen Diversität ist eines, das man häufig in Gesprächen über Amsterdam oder die Niederlande hört: die Nähe zum Wasser, die vielen Häfen und verschiedenen Kulturen, die im Land vertreten sind; aber sicherlich auch wegen der kolonialen Vergangenheit des Landes.
SC: Das alles stimmt sicherlich. Das Land ist ausserdem recht zentriert, all die verschiedenen Kulturen vermischen sich und befruchten sich gegenseitig. Und Reggaeton ist ein Teil dieses Prozesses, der ziemlich wichtig ist. Nicht nur für mich, sondern für sehr viele Menschen.
MN: Es fällt auf, dass das Genre immer populärer wird.
SC: Reggaeton ist Popmusik. Jeder mag es, sogar die Nerds. Vielleicht produziere ich es ja auch schon heimlich. Ich arbeite an einigen Sachen, die anders sind, als meine bisherigen Projekte. Unter anderem an langsameren Stücken mit einem Gitarristen aus Paris, die in eine Poprichtung tendieren, wenn man sich die Arrangements und Konstruktion der Stücke anschaut.
MN: Eine Anmerkung, die ich mir in der Vorbereitung unseres Gespräches aufgeschrieben habe, ist die Beobachtung, dass es scheint, als zielten deine künstlerischen Projekte auf Dekonstruktion ab.
SC: Das geschieht unbewusst, aber ist vielleicht wahr. Ich werde oft gefragt, ob ich Schlagzeug spiele – aber ich habe erst vor fünf Jahren angefangen, Musik zu produzieren und zu machen. Davor war ich kein Musiker. Aber in den Rhythmen, die ich nutze, ist es sicherlich auch möglich die Karibik zu hören, neben den offensichtlicheren Verweisen auf elektronische Musik. Es schimmert vielleicht nur leicht durch, aber unter all den anderen Schichten ist sie präsent.
MN: Ich glaube, Éduoard Glissant hat in Bezug auf eine solche Arbeitsweise, und auch in Bezug auf die Karibik, den Begriff «Kreolisierung» geprägt: das Vermischen vieler verschiedener Elemente, um etwas Neues zu kreieren.
SC: Ja, aber es gibt immer noch eine Art unsichtbarer Grenze, die noch nicht überwunden ist. In den Niederlanden gibt es zum Beispiel grosse Techno- und R&B-Szenen, aber diese haben nichts miteinander zu tun, sind nicht miteinander in Kontakt. Bestimmte Szenen haben bestimmte Haltungen und ich finde nicht, dass das immer noch nötig ist. Manchmal wirkt es fast, als hätten einige Genres ein Stigma. Das ist eine antiquierte Haltung. Es sollte doch möglich sein, sich offen über jede Art von Musik unterhalten zu können.